Forschungsprogramm

Die Wirtschaftssoziologie ist eine Teildisziplin der Soziologie, die sich mit der Analyse der Bedingungen, Prozesse und Folgen wirtschaftlichen Handelns befasst. Traditionell grenzte sich die Wirtschaftssoziologie gegen die Ökonomie ab. Die Grenzen zur Ökonomie sind in den letzten Jahren jedoch fließend geworden. Zum einen befassen sich verhaltensökonomische Forschungen zunehmend mit genuin soziologischen Fragestellungen wie jene nach den wirtschaftlichen Transaktionen zugrundeliegenden Werten, Normen, sozialen Netzwerken und Institutionen. Zum anderen greifen manche Zweige der Wirtschaftssoziologie das Rationalitätsprinzip auf, entwickeln Modelle und analysieren diese unter Rückgriff auf eine in der Austauschtheorie entwickelte eigene soziologische Tradition experimenteller Forschung. Im gegenwärtig die Teildisziplin dominierenden Paradigma der New Economic Sociology wird das Konzept der Einbettung wirtschaftlichen Handelns in soziale, kulturelle, institutionelle und historische Kontexte betont.

Das Institut für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien versteht sich als ein Ort, an dem Brücken zwischen der New Economic Sociology und der Ökonomie, insbesondere der Verhaltensökonomie (Behavioural Economics) und der Arbeitsökonomie (Labour Economics) gebaut werden. Als Grundgerüst und locker-integrierende Klammer der wirtschaftssoziologischen Forschungsarbeiten bezieht sich Forschung am Institut auf die inzwischen klassische Unterscheidung von Karl Polanyi zwischen verschiedenen Integrationsformen der Wirtschaft: Reziprozität, Marktaustausch und Redistribution. Mit dem Prinzip der Reziprozität ist eine symmetrische Beziehungsstruktur gemeint, die oft im familiären Kontext oder in Kleingruppen realisiert wird, jedoch auch charakteristisch ist für die Beziehungen zwischen und innerhalb von Wirtschaftsakteuren wie Unternehmen oder Staaten. Als entscheidendes Kriterium gilt, dass die Akteure nicht blind ihr kurzfristiges Eigeninteresse verfolgen, sondern eine längerfristige Kooperation anstreben, die zum beiderseitigen Nutzen ist. Das Prinzip des Marktaustausches setzt keine soziale Beziehungsstruktur voraus, sondern funktioniert auch in vollkommener Anonymität. Die einzige Voraussetzung ist die Existenz eines Marktes als institutionellem Rahmen. In diesem Rahmen führt die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith dazu, dass allgemeiner gesellschaftlicher Wohlstand erreicht wird, indem alle Akteure ihren Eigennutzen zu maximieren suchen. Schließlich ist die Organisation und hierarchisch durchgesetzte Umverteilung der Resultate einer rein marktmäßigen Verteilung unter der Bedingung realweltlicher Abweichungen vom idealtypischen Markt eine zentrale Aufgabe des Staates. Mit dieser Forschungsperspektive verknüpft ist auch die organisationssoziologische Forschung am Institut, die insbesondere einen Fokus auf Beschäftigungsverhältnisse in Verbänden und im öffentlichen Dienst legt.

Im Zeitverlauf variiert die Lage des Forschungsschwerpunktes des Instituts in dieser Trias der Integrationsformen. Methodisch liegt der Schwerpunkt der Forschungsarbeiten im Bereich der experimentellen Forschung sowie der quantitativen Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftssoziologie. Ergänzend werden einzelne qualitativ-vergleichende Studien vorgenommen. Gegenwärtig stehen drei Leitthemen im Mittelpunkt der Forschungsarbeiten:

1. Lebens- und Berufsverläufe in Kontext wirtschaftlichen und demographischen Wandels
Derzeit liegt der Forschungsschwerpunkt in diesem Feld auf dem Thema der Jugendarbeitslosigkeit in Europa. In diesem Forschungsfeld, das im Schnittfeld der Integrationsformen Marktaustausch und Redistribution angesiedelt ist, wird untersucht, wie sich Einstellungen und Werthaltungen zu Erwerbsarbeit, zu wirtschaftlicher Eigenständigkeit und zu unternehmerischem Handeln im Rahmen von Sozialisierungsprozessen über Generationen tradieren. Auf der Grundlage eigener Umfragen werden die sozialen Hintergründe von Jugendarbeitslosigkeit analysiert, wie auch deren mittel- und längerfristigen Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft. Zu den weiteren Forschungsschwerpunkten zählen die sich wandelnden Bedingungen der Erwerbsintegration über den Lebensverlauf (demographischer Wandel, alternde Gesellschaften, Flexibilisierung und Feminisierung der Arbeitswelt). 

2. Solidarität und Umverteilung in Gremien, Netzwerken und Märkten
Im Zentrum dieses im Schnittfeld der Integrationsformen der Reziprozität und der Umverteilung angelegten Themas stehen Fragen zum Zustandekommen von Umverteilungsentscheidungen in Gremien und Netzwerken, zum Zusammenspiel von Macht und Gerechtigkeitsvorstellungen, sowie zu Vertrauen und Kommunikation in Märkten. In Laborexperimenten wird besonderes Augenmerk auf den Prozess der Entscheidungsfindung gelegt: welche Strukturen fördern oder behindern zum einen strategisches Verhalten, zum anderen deliberative Prozesse?

3. Diversität und Geschlechterverhältnisse in Organisationen
Die Heterogenität der Arbeitnehmer in Organisationen ist vielfach nicht deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Heterogenität. Zum Beispiel sind Frauen in Gewerkschaften unterschiedlich erfolgreich bei der Erreichung von Führungspositionen oder ethnische Minderheiten sind in bestimmten Branchen unter- oder überrepräsentiert. Wieso ist Marktversagen bei der Zuordnung von Bewerbern und Stellen zu beobachten, welche Rolle spielt Reziprozität bei Karrieren und welche Maßnahmen nehmen Organisationen zur Erhöhung der Diversität?